Mit spitzer Feder …
Wo sind all die Menschen hin? Ist da noch jemand? Die Reisebranche klagt über Personalmangel, die Gastronomie sowieso, im Pflegebereich fehlen Tausende Arbeitskräfte. Der Lehrermangel verschärft sich, die Justiz sucht verzweifelt Mitarbeiter, der Ärztemangel ist schon lange bekannt. Handwerker sind inzwischen gefragter als Popstars. Vom Fachkräftemangel in der Technologiebranche ganz zu schweigen. In der Schweiz sind sie jedenfalls nicht – da melden unsere Medien «Fachkräftemangel auf neuem Höchststand». Die neuen Hoffnungsträger sind die «Quereinsteiger», die sollen in fast allen Bereichen so rasch wie möglich einspringen. Ungewollt einspringen musste ich auch bei einem Anlass in einem bekannten Schweizer Fünfsternehotel. Nach der langen Coronapause war ich dort wieder einmal als Journalistin für eine Berichterstattung eingeladen. Ich gehe immer gerne in das luxuriöse Fünfsternehaus direkt am Berner Bahnhof. Bis jetzt war ich immer begeistert, nicht nur vom gediegenen Ambiente, sondern auch von Speis, Trank und Service. Begeistert bin ich immer noch vom noblen Ambiente – weniger nobel und vorzüglich war dieses Mal indessen der Service.
Die Crew war zusammengewürfelt aus mehrheitlich sehr jungen Menschen – ich hatte zeitenweise den Eindruck, sie würden zum ersten Mal einen Teller in den Händen halten oder ein Tablett mit Geschirr balancieren und sich hier auf einem Blindflug befinden. Ihre Gesichter sprachen Bände – von verkniffener Miene, über ratlose Blicke bis hin zu mühevollem Lächeln. Wir hatten den geschäftlichen Teil beendet und wären bereit gewesen für das Entrée – vom Servicepersonal jedoch keine Spur. Ein kurzer Besuch in der Küche nebenan, liess die Crew dann in die Sätze kommen! Allerdings nicht wie gewohnt, respektive wie es der Service eines Fünfsternehotels verlangt. Wir sassen vor leeren Wassergläsern. Kurzer Hand griff ich die Wasserflaschen, die für den geschäftlichen Teil schon vorhanden waren und schenkte an unserem Tisch ein. Auch die Brötchen wurden nicht mehr nobel mit Silberzange separat aufs Tellerchen gelegt inklusive der Portion Butter – nein, ganz und gar nicht – der Korb mit Brötchen wurde vielmehr wie am Zmorgentisch in der WG auf den Tisch gestellt, daneben die Schüssel mit den Butterportionen. Auch hier ergriff ich die Initiative und verteilte so majestätisch wie möglich Brot und Butter unter meinen Tischnachbarn. Doch es folgte gleich der nächste Fauxpas: Mein Vegi-Menü wurde wortlos warm und dampfend vor mich auf das weisse Tischtuch gestellt, während meine fleischessenden Tischnachbarn noch rund 15 Minuten auf ihre Gerichte warten musste. Wie sollte ich das deuten? Schlechtes Timing oder als Botschaft zwischen den Zeilen: «Selber schuld, wenn Du vegi bist und eine Extrawurst verlangst?» Jedenfalls bleib mir nichts anders übrig, als gegen mein Bauchgefühl und meine gute Kinderstube alleine mit dem Essen anzufangen, wollte ich nicht kaltes Risotto essen.
Tja, so ging es weiter: Der Maître de Service schwitzte, winkte, gestikulierte und gab kaum hörbare Befehle – doch es gelang ihm nicht, seine Crew irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Sie harmonierten nicht und waren bis spätestens zum Dessert völlig aus dem Ruder gelaufen: Das Geschirr klapperte, es rumpelte, Dessertgabel und -löffel wurde unhygienische vorne angefasst – man denke an Corona, Affenpocken und viele andere Bazillen –, der Sekretärinnen-Tisch wurde ganz unüblich vor dem Tisch der Teppichetage bedient, die Gläser waren immer halb leer (zumindest die Wassergläser) und es herrschte mehr eine chaotische Unruhe statt einem gesitteten, ruhigen Fünfsterne-Speisesaal-Ambiente. So viel zum Fachkräftemangel in der Gastronomie und Hotellerie – oder wie wir es auch immer nennen mögen.
Nicht nur in den noblen Häusern herrscht akuter Personalmangel – die Zeitungen sind voll von Geschichten über Gäste vor verschlossenen Türen von Gasthäusern in Stadt und Land. Als aufmerksamer und hilfsbereiter Gast versuche ich das Servicepersonal – wann immer möglich – zu entlasten und räume selbst gleich ab oder stelle das Geschirr so geschickt zusammen, dass das Servicepersonal mit nur wenigen Handgriffen den Tisch abräumen kann. Dies hat zur Folge, dass ich zuhause einen ganzen Stapel Visitenkarten von Gastronomen habe, die mich gerne sofort einstellen möchten, obwohl ich nicht aus der Branche komme – und notabene nicht besonders geschickt bin, wenn es darum geht, ein volles Tablett rasch und sicher von A nach B zu tragen. Jedenfalls weiss ich jetzt, dass ich in der aktuellen Situation wohl durchaus als Quereinspringerin eine Chance hätte!
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin