Jedes Jahr erleiden in der Schweiz rund 26’000 Personen eine Hirnverletzung. FRAGILE Suisse kümmert sich um die Menschen, die nach einer Hirnverletzung auf Unterstützung angewiesen sind und übernimmt damit eine wichtige soziale Aufgabe. Geschäftsleiter Martin D. Rosenfeld über die individuelle Begleitung der Betroffenen und ihren Angehörigen, Gemeinschaft und Inklusion, zielgerichtete Angebote und die Sensibilisierung der Gesellschaft.
Für diejenigen, die FRAGIL Suisse nicht kennen: Wie würden Sie die Organisation kurz charakterisieren?
Martin D. Rosenfeld: FRAGILE Suisse ist die schweizerische Patienten- und Behindertenorganisation für Menschen mit einer Hirnverletzung und Angehörige. Ziel ist es, sowohl die Betroffenen als auch ihre Angehörigen nach einem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder einer anderen Hirnverletzung zu unterstützen und ihnen zurück in ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu verhelfen. Neben der Unterstützung im Alltag stehen dabei sowohl die Gemeinschaft und die Inklusion als auch eine individuelle Begleitung nach den ganz persönlichen Bedürfnissen unserer Klientinnen und Klienten im Vordergrund.
Was sind die wichtigsten Dienstleistungen?
In erster Linie richten sich die Dienstleistungen von FRAGILE Suisse und ihren elf Regionalvereinigungen an Betroffene einer Hirnverletzung sowie Angehörige. Aber auch Fachpersonen werden durch uns professionell beraten. Neben unserer Sozialberatung bieten wir begleitetes Wohnen – damit Menschen mit Hirnverletzung weiterhin in ihren eigenen vier Wänden wohnen können. Des Weiteren führen wir regelmässig Kurse und zielgruppengerechte Freizeitaktivitäten an, welche unter anderem Möglichkeiten für neue soziale Kontakte und den Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen fördern. Ergänzt wird das Ganze durch zahlreiche Selbsthilfegruppen und Treffpunkte in den Regionen. Im Vordergrund steht dabei die Hilfe zur Selbsthilfe.
Wie hat sich das Leben von Menschen mit Hirnverletzungen in den letzten Jahren verändert?
Die medizinische Behandlung nach einem Hirnschlag oder Schädel-Hirn-Trauma hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt, so dass heute die Überlebenschancen der Patientinnen und Patienten viel höher sind, als noch vor einigen Jahren. Auch hat unsere Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit dazu beigetragen, dass viele Menschen auf ihre Gesundheit achten, Symptome eines Schlaganfalls erkennen und entsprechend handeln. Trotzdem bedeuten die Folgen einer Hirnverletzung für die Betroffenen und die Angehörigen einen sehr schwereren Einschnitt in ihr Leben. Viele leiden unter körperlichen und kognitiven Einschränkungen, sind nicht mehr in der Lage zu arbeiten, verlieren ihr soziales Umfeld, was auch zu Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen führen kann. Dank dem Internet und den Sozialen Medien ist es einfacher geworden, sich über Unterstützungsangebote zu informieren. Leider – und das ist ein grosses Problem – sind die Sozialversicherungen, namentlich die Invalidenversicherung, sehr viel restriktiver geworden und lehnen berechtigte Ansprüche oftmals aufgrund mangelnder Kenntnisse ab. So müssen sich Betroffene häufig auf einen langwierigen Kampf für ihre Rechte einstellen.
Wie oft passieren Hirnverletzungen in der Schweiz und was sind die häufigsten Ursachen dafür?
Jedes Jahr erleiden in der Schweiz rund 26’000 Personen eine Hirnverletzung. Zu den häufigsten Arten zählen Schlaganfälle sowie Schädel-Hirn-Traumata. Aber auch Hirntumore und andere krankheitsbedingte Hirnschädigungen sind leider nicht selten. Zählt man die leichten Schädel-Hirn-Traumata hinzu, steigt die Zahl gar auf 41’000 Fälle pro Jahr. Unabhängig von Alter, Geschlecht und Wohlstand kann eine Hirnverletzung jeden treffen. Während gewisse Risikofaktoren wie Rauchen, ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung eine Hirnverletzung begünstigen können, gibt es kein pauschales Rezept oder eine Garantie, wie man eine Hirnverletzung vermeiden kann. Umso wichtiger ist es, dass die Gesellschaft für dieses wichtige Thema sensibilisiert ist, im Ernstfall schnell und richtig reagiert und wo möglich, präventive Massnahmen trifft – beispielsweise durch das Tragen eines Helmes beim Fahrradfahren oder Wintersport.
Was braucht es, damit hirnverletzte Menschen ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können?
Die wenigsten schaffen das aus eigener Kraft. Es braucht die Unterstützung des Umfelds, insbesondere der Angehörigen. FRAGILE Suisse bietet zahlreiche zielgerichtete Angebote. Darunter auch solche, welche die Betroffenen dazu befähigen, sich auf ihre veränderte Lebenssituation einstellen zu können. Und was ebenso wichtig ist, es braucht die Akzeptanz der Gesellschaft für die Anliegen dieser Menschen. Noch immer werden Betroffene stigmatisiert. Es braucht aber auch Verbesserungen bei den Leistungen der Sozialversicherungen. Aber auch die Kantone sind gefordert bei der Finanzierung der Unterstützungsangebote. Es ist unerträglich, wenn Menschen durch einen unverschuldeten Schicksalsschlag in finanzielle Not geraten und sie von der Gesellschaft allein gelassen werden.
Wie geht die Gesellschaft mit hirnverletzten Menschen um?
Obwohl es in der Schweiz rund 130’000 Betroffene und etwa 300’000 nahe Angehörige gibt, ist das Thema in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt. Da keine Hirnverletzung gleich ist wie die andere und viele Folgen von aussen nicht erkennbar sind, ist das Thema sehr schwer zu greifen und zu verstehen. Leider müssen sich Betroffene immer wieder erklären, stossen auf Unverständnis und werden teilweise von der Gesellschaft ausgeschlossen. Damit sich das ändert, betreibt FRAGILE Suisse aktive Öffentlichkeitsarbeit. Ziel ist es, die Bevölkerung für Hirnverletzungen und ihre möglichen Folgen zu sensibilisieren, das Verständnis für die Betroffenen und dadurch auch ihre Inklusion in der Gesellschaft zu fördern.
Die Digitalisierung scheint für hirnverletzte Menschen Fluch und Segen zu sein. Wo gibt es konkret Vorteile?
Aufgrund von unterschiedlichen Folgen wie beispielsweise schnellem Ermüden, Reizüberflutung und körperlichen Behinderungen, sind Menschen mit einer Hirnverletzung oft auf kurze Anfahrtswege, eine reizarme Umgebung und häufige Ruhezeiten angewiesen. Die Digitalisierung ermöglicht unter anderem das Arbeiten von Zuhause oder die Teilnahme an ausgewählten Kursen (auch von FRAGILE Suisse) sowie Selbsthilfeangeboten. Die Betroffenen verlieren dadurch keine Zeit für die Anfahrt und können sich ihre Energie gezielter einteilen. Überdies können sie sich eine möglichst reizarme und somit optimale (Lern-)Umgebung schaffen. Es gibt aber auch Betroffene, für die das Arbeiten am Computer nicht möglich ist. Sie werden von diesen Angeboten ausgeschlossen, weshalb es wichtig ist, dass es unterschiedliche Möglichkeiten und nach wie vor auch physische Angebote in ihrer Nähe gibt.
Wie verändert sich der Charakter von Betroffenen bei einer solchen Verletzung?
Meist ist es nicht der Charakter, der sich ändert. Vielmehr sind es die Folgen, die beispielsweise dazu führen, dass sich Betroffene nicht mehr oder nicht mehr gleich ausdrücken können. Es gibt Personen, die beispielsweise keine Freude oder Trauer mehr verspüren können, oder nicht mehr über dieselbe Empathie verfügen. Sie sagen Dinge, die verletzend sein können, machen dies aber nicht bewusst und aus böser Absicht. Manche von ihnen merken dann, dass sie etwas «Falsches» gesagt haben und entschuldigen sich, wissen aber eigentlich gar nicht wofür. Abhängig von der Schwere und Art der Folgen, kann dies natürlich auch Veränderungen des Charakters nach sich ziehen. Wenn das «alte» Leben plötzlich nicht mehr existiert und man zu einem Neuanfang gezwungen wird, verändert sich oftmals auch die Persönlichkeit. Man muss die neue Situation annehmen, und akzeptieren, dass gewisse Dinge nicht mehr gehen. Unter Umständen muss man sich komplett neu erfinden.
Was bedeutet eine Hirnverletzung für Angehörige der Betroffenen?
Nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Angehörigen verändert sich das Leben durch eine Hirnverletzung meist auf einen Schlag. Oft sind es die Angehörigen, die den Ausfall/Verlust «kompensieren» und sich während der Abwesenheit (Spital- und Reha-Aufenthalt) und auch danach, um alles sorgen. Plötzlich müssen sie neben dem Beruf auch die Haushaltsführung und die Kinderbetreuung alleine stemmen, sich parallel um alle administrativen Aufgaben sowie allfällige Streitigkeiten mit Versicherungen kümmern und die Rechte für die betroffene Person einfordern. Dies führt nicht selten zu einer Überlastung, weshalb es wichtig ist, dass Angehörige auch auf sich selbst achten und ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht vernachlässigen. Sich Hilfe zu holen – vom persönlichen Umfeld oder auch professionell, beispielsweise durch FRAGILE Suisse – ist dabei keinesfalls ein Zeichen von Schwäche, sondern viel mehr eines von Stärke.
Was sind wichtige Projekte von FRAGILE Suisse?
Neben den bestehenden Dienstleistungen ist es uns ein grosses Anliegen unser Angebot laufend zu optimieren und bei Bedarf auszubauen. So durften wir letztes Jahr das Angebot LOTSE einführen. Dabei geht es um eine aktive Kontaktaufnahme mit den Betroffenen und Angehörigen, in einer sehr frühen Phase: nämlich bereits während des stationären Aufenthaltes im Spital oder in der Reha. Durch eine individuelle Begleitung, sollen die Lücke zwischen dem Klinikaustritt und dem neuen Alltag zuhause geschlossen und Rückschläge möglichst vermieden werden. Gemeinsam werden individuelle Lösungen gesucht und von den LOTSE-Fachpersonen Richtungen aufgezeigt, für den Aufbau neuer Tagesstrukturen und die Unterstützung auf dem Weg in ein neues Leben. Die Begleitung wird so lange fortgeführt, wie sie benötigt und gewünscht wird – damit langfristig optimale Fortschritte erzielt und ein Maximum an Selbstständigkeit zurückerlangt werden kann. Dieses Angebot wird nun sukzessive auf weitere Teile der Schweiz ausgeweitet, damit möglichst viele Betroffene einer Hirnverletzung von dieser frühzeitigen und langfristigen Unterstützung profitieren können.
Was wünschen Sie sich für FRAGILE Suisse respektive für hirnverletzte Menschen für die Zukunft?
FRAGILE Suisse kümmert sich um die Menschen, die nach einer Hirnverletzung auf Unterstützung angewiesen sind und übernimmt damit eine wichtige soziale Aufgabe. Wir wünschen uns ein grösseres Engagement von Staat und Gesellschaft, damit wir auch die Mittel bekommen, um diesen Menschen helfen zu können. Wir werden längerfristig nicht mehr in der Lage sein, alle unsere Aufgaben mit Spendengeldern zu finanzieren. Für die Betroffenen wünschen wir uns mehr Verständnis und gesellschaftliche Wärme.
Interview: Corinne Remund