Fishel Rabinowicz überlebte neun Konzentrationslager und hinterliess der Welt eine unverwechselbare Erinnerung an das Grauen der Shoah – nicht in Worten, sondern in seinen Bildern.

Der bekannte Künstler und einstige KZ-Insasse starb Ende Oktober 2024 im Alter von 100 Jahren im Tessin. Doch auch nach seinem Tod bleibt seine Kunst ein kraftvolles Zeugnis für die Überlebenden und die Opfer des Holocausts.
Die dunklen Schatten der Vergangenheit
Die Erinnerungen an die unvorstellbaren Gräueltaten, die Fishel Rabinowicz während seiner Jahre in den Konzentrationslagern erlebte, holten ihn immer wieder ein. Mit zunehmendem Alter verstärkten sich die traumatischen Bilder in seinem Geist, bis sie nicht mehr zu verdrängen waren. Doch erst nach seiner Pensionierung begann er, sich intensiv mit diesen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Aus der Konfrontation mit seiner Vergangenheit entstanden grafische Werke, die von seiner eigenen Lebensgeschichte und dem Schicksal des europäischen Judentums berichteten.
Eines seiner bedeutendsten Werke, «Der Überlebende», spiegelt diese innere Auseinandersetzung wider. Es zeigt das hebräische Alphabet, das durcheinandergeworfen ins Chaos stürzt, während ein einzelner Buchstabe sich verzweifelt zu halten versucht. Dieses Bild spiegelt das Zerbrechen von Tradition und Kultur wider, die Rabinowicz während der Shoah verlor, und zugleich auch seine eigene Überlebensgeschichte – als einziger Überlebender seiner Familie.
Vom glücklichen Leben zur Zerstörung der Welt
Fishel Rabinowicz wurde 1924 im polnischen Sosnowiec geboren, als drittes von zehn Kindern, in einer tiefreligiösen Familie. Schon früh zeigte er grosses Talent im Zeichnen, was sein Vater förderte. Doch mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen im September 1939 änderte sich alles. Der junge Fishel, der gerade 17 Jahre alt war, wurde am 26. Mai 1941 bei einer Strassensperre von den Nazis verhaftet und in neun verschiedene Zwangsarbeits- und Konzentrationslager deportiert. In einem dieser Lager erhielt er die Nummer 19037, die für ihn fortan seine Identität bestimmte – «Von diesem Moment an war ich kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Zahl», sagte er später.
In den Lagern musste Rabinowicz unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Doch der wahre Albtraum begann 1945, als er und die anderen Häftlinge auf einen 325 Kilometer langen Todesmarsch geschickt wurden. 55 Tage der Qualen und Entbehrungen, in denen erschöpfte Gefangene von den SS-Wachen erschossen wurden. Fishel Rabinowicz erreichte schliesslich das KZ Buchenwald, wo er von den amerikanischen Truppen am 11. April 1945 befreit wurde. Zu diesem Zeitpunkt wog er nur noch 28 Kilogramm und war dem Tod nahe.
Die Tragödie der Familie und das Überleben durch Zufall
Der Zufall, so Rabinowicz, sei der Grund gewesen, warum er überlebte. Doch während er dem Grauen der Shoah entkam, wurde seine Familie weitgehend ausgelöscht. 31 seiner Verwandten, darunter seine Eltern und sechs Geschwister, wurden von den Nazis ermordet. Nur zwei seiner älteren Brüder überlebten die Vernichtung.
Nach dem Krieg verbrachte Rabinowicz mehrere Jahre in deutschen und Schweizer Sanatorien, um sich von den körperlichen und seelischen Wunden zu erholen. 1949 begann er an der Zürcher Kunstgewerbeschule eine Ausbildung zum Grafiker und Dekorateur. Später zog er in den Tessin, wo er eine Familie gründete und begann, seine Erfahrungen in Kunst umzusetzen.
Eine Stimme für die Menschlichkeit
Fishel Rabinowicz war nicht nur ein Überlebender des Holocausts, sondern auch eine bedeutende Stimme im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Mit seiner Kunst setzte er sich unermüdlich für die Werte der Menschlichkeit und das Erinnern ein. Für ihn war «Nie wieder» weit mehr als ein blosser Slogan – es war eine Lebensaufgabe. Die Geschichten des Überlebens und des Widerstandes gegen das Vergessen, die seine Bilder erzählen, bleiben als kraftvolles Zeugnis seiner Generation bestehen und werden auch kommende Generationen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anregen.
Zeitzeugenvideo im digitalen Schulbuch
Im digitalen Schulbuch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» kann die Lebensgeschichte von Fishel Rabinowicz im Videoformat (Video@Gamaraal Foundation, Kapitel 20: Leben als Flüchtling) im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen I und II genutzt werden (https://ch-jugend2wk.ch/). Auf diese Weise bleibt seine Stimme über den Tod hinaus für die jüngeren Generationen lebendig – nicht nur durch seine Kunst, sondern auch durch seine persönliche Erzählung.
Fishel Rabinowicz ist zwar verstorben, doch seine Kunst lebt weiter – als Mahnung und als Erinnerungsstück an einen der dunkelsten Abschnitte der Menschheitsgeschichte.
Erika Bigler
Sekundarlehrerin und
Präsidentin Verein für zeitgemässes Lernen
Mehr Informationen unter:
www.ch-jugend2wk.ch
Fishel Rabinowicz:
www.holocaust-artist.org